3.3. Intersektionalitätsverständnis
Wie in unserer Einleitung bereits thematisiert, beruht unser Verständnis einer differenzierten Auseinandersetzung mit Themen der Gender Studies auf intersektionalen Ansätzen, welche Geschlecht nicht als alleinstehende Analysekategorie, sondern als verwoben mit anderen Dimensionen wie z.B. Klasse und Rassifizierung sehen. Dieses Verständnis wird auch von vielen der von uns interviewten Studierenden vertreten. Intersektionalität wurde in den Interviews sowohl als wissenschaftliches Konstrukt in der Theorie, als auch als umzusetzende Praxis relevant gemacht. Interessant war u.a., welche Diskriminierungskategorien und Machtstrukturen von den Interviewten als besonders relevant erachtet wurden. In Auseinandersetzungen mit Intersektionalität gibt es oft die “Big 3”: gender, race, class. Bei Fragen zur Zusammenwirkung von unterschiedlichen Dimensionen, wenn es um Geschlechterfragen geht, wurden unterschiedliche genannt, aber besonders wurden materielle Verhältnisse mehrfach hervorgehoben. Von mehreren Studierenden wurden kapitalistische Strukturen als fundamental für existierende Diskriminierungs- und Machtstrukturen beschrieben und dass daher ein strukturell diskriminierungskritischer Ansatz zu Geschlechterthemen Klasse und materielle Bedingungen als zentral behandeln muss:
Intersektionalität, wie sie jetzt gelehrt wird, versteht Class als eine Intersektion unter vielen. Ich würde sagen, dass damit schon ein entscheidender Schritt in Richtung Entradikalisierung gegangen ist. (Interview 1)
Solange wir grundlegende Macht-/Herrschaftsstrukturen nicht verändern (können), die unser gesellschaftliches Miteinander entscheidend bestimmen (Produktions- und Reproduktionsverhältnisse --> Kapitalitmus), wird das Ringen um die Implementierung intersektionaler Perspektiven und das Bemühen, Diskriminierung möglichst klein zu halten, immer an Grenzen stoßen. (Interview 10)
Als Theorie sahen Studierende Intersektionalität als eine Grundlage für gute Wissenschaft. Genannt wurde als einer der Gründe, dass in der Wissenschaft bestehende gesellschaftliche Unterdrückungsmechanismen (re-)produziert werden und ein intersektionaler Ansatz notwendig sei, um diese Realitäten zu reflektieren und wissenschaftlich korrekt zu arbeiten:
Soziale und materielle Bedingungen beeinflussen alle Wissenschaft. Eine Auseinandersetzung mit diesen Bedingungen ist also notwendig, um nicht diese Bedingungen in der jeweiligen Wissenschaft wieder zu produzieren. (Interview 1)
Vor allem für das LAI ist es notwendig, beim Forschen sich zu positionieren und die Privilegien von Klasse, Ethnie, Rasse, Geschlecht usw. anzuerkennen, um nicht in koloniale, rassistische und diskriminierende Praktiken zu verfallen. (Interview 12)
Auch Fragen dazu, wer und wessen Wissen als wissenschaftlich anerkannt wird, sowie auch wessen Lebensrealitäten wissenschaftlichen Wert erhalten, wurden thematisiert. Dies erstrecke sich über den akademischen Raum hinweg auch auf darauf aufbauende Berufe und Tätigkeiten:
Jura beschäftigt sich durchweg mit gesellschaftsrelevanten Themen und durch die einseitig weiße cis het, zumeist männliche Perspektive, die wir dabei einnehmen, geht die Möglichkeit ein gerechteres Rechtssystem zu schaffen verloren. (Interview 4)
Da das Geschlecht in vielen Teilgebieten unseres Lebens eine Bedeutung hat und Einfluss auf unser Handeln und unser Empfinden hat, ist es notwendig in unterschiedlichen Fachbereichen Geschlechter mitzudenken, damit auch alle gesellschaftlichen Gruppen mitgedacht werden. (Interview 9)
Hier finden sich Überlappungen zu Aussagen zur Intersektionalität als Praxis. Viele Interviewte hatten einen Blick, der über die reine Verankerung von Intersektionalität oder geschlechterbezogenen Themen in der Wissenschaft hinausging, sondern auch konkrete Handlungen zur Umsetzung der theoretischen Überlegungen forderte. Innerhalb der Universität wurden bspw. Machtgefälle und Diskriminierungsstrukturen zwischen Dozierenden und Studierenden, aber auch zwischen Kommiliton*innen bzw. Kolleg*innen angesprochen, die es zu ändern bedürfe:
Ich habe den Eindruck, dass universitäre Strukturen oft etwas träge funktionieren und dass es auch innerhalb der Institute Machtgefälle gibt, grade auch zwischen den alteingesessenen Professor*innen und den jüngeren Dozierenden […] sowie den Studierenden. (Interview 2)
Gerade in der Physik, aber auch teilweise anderen Naturwissenschaften, herrscht nach wie vor ein sehr hoher Männeranteil im Studium, was sicherlich stark mit dem Selbstverständnis/der Barrierefreiheit […] der Wissenschaft auf diesem Gebiet an sich zusammenhängt. (Interview 5)
Was auf jeden Fall immer wieder und wieder auftaucht: Es darf nicht bei der Theorie bleiben, sondern es muss gehandelt werden.
Hm — vielleicht sowas, dass Sachen nicht nur theoretisch reflektiert, sondern auch in der konkreten Wissenschaftspraxis konsequent umgesetzt werden. (Interview 8)
Es muss um mehr gehen, als eine theoretische Auseinandersetzung mit dem Thema. (Interview 10)